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Cannabis als Medizin – Erfahrungen und Tipps aus der Praxis


2017 ist das Gesetz „Cannabis als Medizin“ in Kraft getreten. Bislang haben aber nur wenige Ärzte Erfahrungen in der Verordnung von Medizinalcannabis gesammelt. Eine Expertin mit mehr als 20 Jahren Erfahrung auf diesem Gebiet ist Frau Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Im Fachbuchblog-Interview berichtet sie über Indikationen, Medikamente und Wirkstoffe sowie die Verordnung von Cannabis.

Frau Professor Müller-Vahl, halten Sie den Einsatz von Cannabis als Medizin für sinnvoll?

Wir wissen heute sicher, dass Cannabis und cannabisbasierte Medikamente als Arzneimittel sinnvoll eingesetzt werden können und wirksam sind. Richtig dosiert sind cannabisbasierte Medikamente überwiegend gut verträglich und sicher.

Allerdings ist bis heute nur unzureichend bekannt, in welchen Indikationen sie tatsächlich wirksam bzw. anderen, seit Jahren etablierten Medikamenten überlegen sind. Dafür fehlen noch etliche hochwertige, aussagekräftige Studien.

Für welche Indikationen ist die Wirksamkeit von Cannabis bzw. entsprechenden Medikamenten denn schon belegt?

In Deutschland haben bisher zwei Medikamente eine Zulassung, was ja nach allgemeiner Einschätzung bedeutet, dass die entsprechende Wirksamkeit belegt ist:

  • Sativex®, ein Cannabis-Extrakt, hat eine Zulassung für Spastik bei MS. Auch andere Stellen, u. a. das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), haben Wirksamkeit und Zusatznutzen in dieser Indikation bestätigt.
  • Canemes® mit dem synthetisch hergestellten Wirkstoff Nabilon, der dem Tetrahydrocannabinol (THC) sehr ähnlich ist, hat eine Zulassung für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie. Diese Zulassung basiert nicht auf eigenen Studien. Der Hersteller konnte sich vielmehr nach dem „Well established use“-Grundsatz darauf beziehen, dass das THC-haltige Medikament Marinol® in den USA seit über 30 Jahren eine entsprechende Zulassung hat.

Zwei weitere Indikationen für Cannabis als Medizin würde ich als gesichert ergänzen, obwohl es in Deutschland keine entsprechenden Zulassungen gibt:

  • Chronischer, insbesondere neuropathischer Schmerz:
    In anderen Ländern, u. a. Kanada, hat Sativex® für diese Indikation bereits eine Zulassung. Zudem gibt es mittlerweile ausreichend Studien, die eine Wirksamkeit belegen. Viele Fachgesellschaften, z. B. die Europäische Schmerzgesellschaft (EFIC), haben Cannabis-Medikamente auch in ihre entsprechenden Leitlinien aufgenommen, nicht als Ersttherapie, aber als Therapie der dritten Wahl.
  • Kachexie und Appetitsteigerung bei HIV-/Aids-Patienten:
    Die Zulassung, die Marinol® damals in den USA erhalten hat, galt auch für diese Indikation. Glücklicherweise erleben wir dank der deutlichen Behandlungsverbesserungen nicht mehr derartig fortgeschrittene Stadien der Erkrankung. Darum spielt diese Indikation heute keine Rolle mehr im klinischen Alltag, obwohl sie als erwiesene „vierte Indikation“ anzusehen ist.

Es gibt zahlreiche weitere Indikationen, für die die Datenlage noch nicht eindeutig ist, aber bei denen die bisherigen klinischen Erfahrungen eine Wirksamkeit nahelegen.

Bei welchen Indikationen scheint Cannabis nach bisheriger klinischer Erfahrung zu wirken, auch wenn dies noch nicht durch entsprechende Studien belegt werden kann?

Ein Beispiel ist das Tourette-Syndrom, mein klinisches Spezialgebiet. Aus klinischer Erfahrung und den bisher verfügbaren Daten würde ich ganz klar eine Wirksamkeit annehmen. Aber um dies eindeutig belegen zu können, benötigen wir weitere Studien.

Das gilt gleichermaßen für zahlreiche weitere Erkrankungen mit teilweise sehr deutlichen klinischen Behandlungserfolgen aus unterschiedlichen medizinischen Bereichen. Dazu zählen beispielsweise:

  • Psychiatrie: ADHS, Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Angststörungen und autistische Erkrankungen
  • Neurologie: Spastik aus anderer Ursache als MS, Restless-Legs-Syndrom, Epilepsie
  • Innere Medizin: Reizdarm, Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa
  • Dermatologie: Hyperhidrose, Akne inversa

Davon kann man natürlich noch nicht ableiten, ob die Medikamente für das Gros der Patienten wirksam sind oder nicht. Hierfür brauchen wir entsprechende Daten.

Zahlreiche weitere mögliche Indikationen werden aktuell diskutiert.

Sind Unterschiede in der Wirkung der verschiedenen Mittel und Blüten festzustellen?

Grundsätzlich weiß man momentan leider sehr wenig darüber, welche Cannabis-Medikamente  in welcher Indikation und Darreichungsform am besten wirksam sind.

Bislang wissen wir nur, dass der THC- und der CBD-Gehalt einen Einfluss auf die Wirksamkeit haben. So macht es einen Unterschied, ob Blüten mit 1% oder 25% THC verwendet werden. Beispielsweise weiß ich aus meiner jahrelangen Behandlungserfahrung im Bereich Tourette-Syndrom: Für eine wirksame Therapie der Tics brauchen Sie einen THC-Gehalt von mindestens 15/16%, besser noch 22/23%. Auch hier fehlt aber noch eine Studie, die das eindeutig belegt.

Zurzeit gehen wir davon aus, dass bei Medikamenten mit ähnlichem THC- und CBD-Gehalt auch die Wirksamkeit ähnlich ist. Aber in Cannabis und in Cannabis-Extrakten ist viel mehr enthalten, als THC und CBD – nämlich rund 100 weitere Cannabinoide und mehr als 500 Pflanzeninhaltsstoffe mit unterschiedlichen Profilen. Aktuell werden insbesondere die Terpene und Flavonoide als weitere Inhaltstoffe, die für die Wirkung relevant sein könnten, diskutiert. Auch wissen wir nicht, inwiefern die Wahl der Blüten, z. B. Sativa oder Indica, eine Rolle spielt. Das ist alles noch nicht ausreichend untersucht worden.

Patienten berichten häufig von unterschiedlichen Wirkungen der verschiedenen Medizinalcannabisblüten, ohne dass wir klar verstehen, warum. Die Patientenumfrage, die die MHH derzeit mit der Arbeitsgemeinschaft Cannabis-Medizin e. V. (ACM) durchführt, soll hierzu weiterführende Daten bringen.

Was sind die konkreten Inhalte und Ziele dieser Patientenumfrage?

Wir befragen Patienten nach der Wirksamkeit verschiedener Cannabisblüten-Sorten bei ihren jeweiligen Erkrankungen. Dadurch möchten wir herausfinden, ob bestimmte Blüten bei spezifischen Erkrankungen oder Symptomen besser wirken als andere. Dann können wir anschließend prüfen, welche Inhaltsstoffe die besonders wirksamen Blüten auszeichnen – und dabei eben nicht nur auf den THC-Gehalt schauen.

Sollte sich herauskristallisieren, dass die Patienten bestimmte Blüten als besonders wirksam bezeichnen, lassen sich entsprechende Hypothesen generieren, die wir anschließend gezielt in Studien untersuchen können. Das wäre von großem Vorteil. Denn bei allen rund 50 verschiedenen Blütensorten die Wirksamkeit zu untersuchen, würde viel zu lange dauern und viel zu viel kosten.

Wir hoffen, dass zahlreiche Patienten an der Umfrage teilnehmen und wir dadurch künftig besser verstehen, wie unterschiedliche Cannabisblüten wirken. Die Teilnahme ist noch bis zum 31. August 2020 möglich.

Gibt es Kontraindikationen für Cannabis als Medizin?

Ja, allerdings werden die je nach behandelndem Arzt unterschiedlich gesehen (abgesehen von Unverträglichkeiten oder Allergien, die immer zu berücksichtigen sind). Ich war beispielsweise in den ersten Jahren zurückhaltender, als ich es heute bin. Das hat natürlich auch etwas mit Erfahrung und Anwendungspraxis zu tun.

Mittlerweile sind Menschen mit einer floriden Psychose die einzigen Patienten, die ich auf keinen Fall mit einem THC-haltigem Medikament behandeln würde. Hatte jemand in der Vergangenheit eine Psychose, ist aber jetzt symptomfrei und stabil, muss man als Arzt sehr sorgfältig prüfen, ob die Psychose mit einem Cannabis-Medikament nicht wieder aufflackert.

Es gibt weitere Patientengruppen, bei denen ich die Indikation sehr kritisch prüfen würde: Schwangere und stillende Frauen, Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 16 Jahren sowie hochbetagte Menschen, die multimorbid erkrankt sind und etliche Medikamente einnehmen. Hier ist auch abzuwägen, ob eine zusätzliche Medikation mehr Nutzen oder Schaden anrichtet. Bei Patienten mit schwersten Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist außerdem zu bedenken, dass Cannabis-Medikamente Schwankungen von Puls und Blutdruck verursachen können.

Was müssen Ärzte bei der Verschreibung von Medizinal-Cannabis beachten?

In den beiden zugelassenen Indikationen, die ich genannt habe, kann jeder Arzt das entsprechende Medikament verschreiben, ohne vorher mit der Krankenkasse Kontakt aufnehmen zu müssen. Zugelassene Medikamente werden immer von der Krankenkasse bezahlt.

Möchte der Arzt aber

  • diese Medikamente in einer Indikation, für die es noch keine Zulassung gibt,
  • ein anderes Cannabis-Medikament oder
  • Cannabis-Blüten

einsetzen, muss er die Kriterien des „Cannabis-Gesetzes“ von 2017 berücksichtigen und entsprechend Sozialgesetzbuch (SGB) V prüfen, wann die Krankenkasse die Kosten übernimmt.

Als behandelnder Arzt hat er dann einen Kostenübernahmeantrag an die jeweilige Krankenkasse zu stellen. Bestätigt diese die Kostenübernahme, kann der Arzt auf Kosten der Krankenkasse eine entsprechende Off-Label- oder No-Label-Therapie durchführen. Stimmt die Kasse dem nicht zu, was bei etwa einem Drittel der Patienten der Fall ist, kann die Behandlung theoretisch auch durchgeführt werden, aber nur per Privatrezept.

Um Ärzten den Anfang zu erleichtern, haben Dr. Franjo Grotenhermen und ich in unserem Buch „Cannabis und Cannabinoide“ ein Kapitel geschrieben, in dem wir explizit beschreiben, worauf zu achten ist. Es hört sich komplizierter an, als es in der Praxis ist. Man kann sich sehr schnell in die Abläufe einarbeiten.

Was ist bei einem No-Label- oder Off-Label-Use von Cannabis als Medizin zu beachten?

No-Label- oder Off-Label-Behandlungen sind mit einer besonderen Aufklärungspflicht verbunden. Zudem handelt es sich um Verschreibungen von Betäubungsmittels (BtM), so dass grundsätzlich auch das Betäubungsmittelgesetz zu beachten ist.

Mittlerweile gibt es vielfältige Informationsangebote und ein weites Spektrum an Weiterbildungsmöglichkeiten zu Cannabis als Medizin: Präsenzveranstaltungen, eine Vielzahl an Webinaren, Informationen, z. B. über die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin e.V. (ACM), Fachbücher, Artikel in verschiedenen medizinischen Fachzeitschriften oder auch telefonische Beratung. Beispielsweise rufen auch bei uns Kollegen an, die einen Rat haben möchten.

Das zunehmende Spektrum an cannabisbasierten Medikamenten macht es auch einfacher. So haben wir mittlerweile viele Extrakte, die oral eingenommen werden können. Es ist dem ärztlichen Handeln vertrauter, eine bestimmte Anzahl an Tropfen pro Tag zu verschreiben, als Cannabis-Blüten, für deren Einnahme weniger gebräuchliche Prozesse erforderlich sind. Ob diese oral anzuwendenden Extrakte auch zu einer Verbesserung in der Behandlung führen, wird man sehen müssen, denn auch dafür gibt es natürlich noch keine Vergleichsstudien.

Sinnvoll und einfacher ist es zudem, wenn man einen Apotheker vor Ort hat, mit dem man kooperiert. Dann kann man sich abstimmen, was gebraucht wird, wie der Ablauf mit den Rezepten läuft etc. Wie bei allen neuen Therapien ist der Anfang immer das Schwierigste, da noch persönliche Erfahrungswerte fehlen. Aber die Therapie mit Cannabis ist nicht so kompliziert, wie sie zunächst erscheinen mag.

Interviewpartnerin

Prof. Dr. med. Kirsten R. Müller-Vahl ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Sie ist Oberärztin in der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie  an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

Prof. Dr. Kirsten R. Müller-Vahl
Foto: https://photovision-dh.de/

Frau Prof. Müller-Vahl ist 1. Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“ (ACM), 1. Vorsitzende der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“ (IACM), Mitglied des Sachverständigenausschuss für Betäubungsmittel der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), war Einzelsachverständige im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags zur Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften zur Verkehrs- und Verschreibungsfähigkeit von Cannabisarzneimitteln und ist Studienleiterin in zahlreichen von der DFG, dem BMBF, der EU und der Industrie geförderten Studien, darunter auch mit Cannabis-basierten Medikamenten und Cannabinoid-Modulatoren.

Produktinfo

Cannabis und Cannabinoide in der Medizin, ©Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Cannabis und Cannabinoide in der Medizin, ©Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

 

Cannabis und Cannabinoide in der Medizin


Müller-Vahl, K.R. / Grotenhermen, F.


Der Titel liefert eine praxisorientierte Anleitung zur medizinischen Verwendung von Cannabis-basierten Medikamenten und gibt vielfältige Hinweise zur Verschreibung sowie Kostenübernahme durch Krankenkassen.

Grundlage des Fachbuchs ist eine dezidierte Auseinandersetzung mit Medikation, Dosierung, Wirkungsweise und Wechselwirkungen von Cannabinoiden mit anderen Substanzen. Auch kontroverse Themen wie psychische Nebenwirkungen und Fragen der Fahrsicherheit werden ebenfalls besprochen. Abschnitte zum Einsatz von Cannabinoiden bei Kindern oder dem Abhängigkeitspotenzial vervollständigen das Buch.


2020, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 343 S., 25 Abb., 9 Tab., € 59,95


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Elke Paxmann

Ist für den Fachbuch-Blog aktiv mit den Akteuren im Gespräch. Sie befragt Autoren, Verleger und Leser nach Hintergründen und kaufentscheidenden Argumenten. Im Austausch mit direkten Beteiligten findet sie die relevanten Alleinstellungsmerkmale eines Titels für Sie heraus, um Ihnen die Entscheidung zu erleichtern.


Ein Kommentar auf “Cannabis als Medizin – Erfahrungen und Tipps aus der Praxis”

  1. Mareike 29. Juni 2022, 11:17

    Schöner Atikel!! Danke für diesen informativen Beitrag

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